BSG Urteil. Ärzte im Notdienst nicht automatisch selbstständig
(Siehe u. a.: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/146823/Bundessozialgericht-Poolaerzte-nicht-automatisch-selbststaendig)
Das Problem der Scheinselbstständigkeit ist komplex. Der Bundesverband der Honorarärzte (BV-H e.V.) beschäftigt sich seit seiner Gründung im Jahr 2008 intensiv mit diesem Thema.
Honorarärzte - Notärzte - Praxisvertreter und Poolärzte - alle Ärzte?
2019 urteilte das Bundessozialgericht über Honorarärzte und zog für eine selbstständige Tätigkeit im Bereich der Klinikvertretungen sehr enge Grenzen. 2021 folgte die Absage der Selbstständigkeit für Ärzte, die als Notärzte (nicht Notdienst) im öffentlichen Rettungsdienst tätig sind und an Ärzte, die Praxisvertretungen übernehmen. Nunmehr trifft es 2023 die Kolleginnen und Kollegen, die sich als sog. "Poolärzte" im KV-Notdienst betätigen.
Wir hatten bereits vor Jahren auf das grundsätzliche Problem der sog. Scheinselbstständigkeit hingewiesen haben versucht, andere ins Boot zu holen und deutlich zu machen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann alle diese Tätigkeiten zur abhängigen Beschäftigung erklärt werden. Leider ohne Erfolg. Jetzt haben wir den Salat!
Typisch für die Standespolitik der deutschen Ärzteschaft ist nämlich, dass sie immer nur Teilbereiche aus der eigenen und mehr oder weniger kleinen Perspektive betrachtet und nicht in der Lage ist, gemeinsam für ein Ziel - hier das Recht auf eine freie und selbstständige ärztliche Tätigkeit - einzutreten. Geradezu anachronistisch ist es, dass ausgerechnet in den Zeiten des Ärzte- und Fachkräftemangels und des demografischen Wandels immer mehr verunmöglicht wird, essenzielle Bereiche der medizinischen Versorgung durch flexible Lösungsansätze (Poolärzte, Freiberufler, Honorarärzte) aufrechtzuerhalten. Da wird von einer Reform der Notfallmedizin konfabuliert, ohne zu begreifen, dass diese Bereiche schon seit Jahren nicht mehr mit dem angestammten Personal ausgefüllt werden können, geschweige denn in der nahen Zukunft, wenn Tausende von Boomer-Ärzte in Rente gehen werden.
Deshalb eine kleine Abhandlung zum Thema Scheinselbstständigkeit
Eine kurze Historie
Im Laufe der 1990er-Jahre kommt es zu einer politischen Debatte über eine mutmaßlich steigende Zahl von Menschen, die ihre Existenz zwischen abhängiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit finden. Sog. Scheinselbstständige erfüllen zwar formal die Voraussetzungen für Selbstständigkeit, aber aufgrund der tatsächlichen Arbeitssituation sind sie eher einem Arbeitnehmer vergleichbar.
Der Gesetzgeber erklärt in dieser Debatte einerseits das Schutzbedürfnis des Einzelnen vor der ungewollten Selbstständigkeit ("ungeschützte Vertragsverhältnisse") als auch das Schutzbedürfnis des Staates vor dem Verlust von Beitragszahlern in die Sozialversicherungssysteme ("Erosion der Beitragsbasis") zum Grund für das 1999 unter der Regierung Schröder verabschiedete Gesetz, das erstmals definiert, wer als scheinselbstständig und damit als abhängig beschäftigt gilt und wer nicht. Sozialversicherungsrechtlich gelten Scheinselbstständige als Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber und sie selbst müssen also anteilig Beiträge zur Sozialversicherung entrichten.
Sozialgesetzbuch
Aktuell ist dieser Umstand im Sozialgesetzbuch IV (SGB IV) festgeschrieben. Dort heißt es recht einfach formuliert:
"...Beschäftigung ist die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers."
Beide Merkmale (Weisung und Eingliederung) sind allerdings nur Anhaltspunkte.
Das Vorliegen einer Beschäftigung setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts voraus, dass der Beschäftigte seine Tätigkeit nicht frei gestalten kann, sondern in einen fremden Betrieb eingegliedert ist und dabei grundsätzlich einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt.
Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeits- oder Dienstleistung. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben Letztere den Ausschlag. Letztlich kommt es für die Beantwortung der Frage, welches Rechtsverhältnis (Selbstständigkeit oder abhängige Beschäftigung) im Einzelfall vorliegt, stets auf eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls an.
Fehlende Definition der Selbstständigkeit
Schon seit Jahren gibt es deshalb Forderungen an die Politik für Klarheit zu sorgen, da im Gesetz nur die abhängige Beschäftigung typisiert ist. Es fehlt an einer eindeutigen gesetzlichen Definition der Selbstständigkeit. Der Selbstständige wird nur über eine Abgrenzung zum abhängig Beschäftigten beschreibbar. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn sich viele Gerichte (Arbeits- und Sozialgerichte) seit Jahrzehnten immer wieder mit der Frage selbstständig oder abhängig beschäftigt auseinandersetzen müssen. Dabei zeigen die zahlreichen Urteile, dass es auch Juristen nicht immer leicht fällt, eine eindeutige Entscheidung zu treffen.
Scheinselbstständigkeit - Konsequenzen
Wird ein Auftragsverhältnis nachträglich zu einem Arbeitsverhältnis eingestuft, kann der frühere Auftraggeber (jetzt "Arbeitgeber") rückwirkend für bis zu 4 Jahre (Bis zu 30 Jahre bei vorsätzlicher Hinterziehung!) zur Zahlung des Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteils aller Anteile der Sozialversicherung (das sind Renten- , Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung) verpflichtet werden. Er ist gegenüber der Einzugsstelle zunächst Alleinschuldner für die Gesamtschuld.
Der Arbeitnehmer haftet dagegen maximal drei bis vier Monate gegenüber dem ehemaligen Auftraggeber. Diese kann nur dann von ihm die Arbeitnehmeranteile einfordern, wenn diese kurze Frist noch nicht abgelaufen ist. Das bedeutet, dass es für den Arbeitnehmer nur in seltenen Fällen zu einer Rück- oder Nachzahlung an seinen früheren Auftraggeber kommt.
Freiwilliges Statusfeststellungsverfahren
Vor der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund können die Beteiligten eine Klärung der Statusfrage (Statusfeststellungsverfahren) erreichen. Das Anfrageverfahren ist jedoch nur dann möglich, wenn die Deutsche Rentenversicherung selbst im Zeitpunkt der Antragstellung noch kein Verfahren eingeleitet hat. Bei einem freiwilligen Statusfeststellungsverfahren auf Antrag bleibt die Feststellung einer abhängigen Beschäftigung finanziell folgenlos. Das bedeutet, dass dann keinerlei Nachzahlungen zu leisten sind. Trotzdem sei an dieser Stelle von einer wiederholten Anwendung von Statusfeststellungsverfahren bei ähnlichen Tätigkeiten und Auftragsverhältnissen gewarnt. Dies kann u. U. als vorsätzlicher Missbrauch des Verfahrens gewertet werden.
Früher Not, heute Privileg - Ärzteversorgung
Nahezu alle Ärzte führen ihre Rentenversicherungsbeiträge aus einem Arbeitsverhältnis oder ihrer selbstständigen Tätigkeit nicht an die gesetzliche Rentenversicherung (DRV) ab, sondern an ein ärztliches Versorgungswerk. Diese berufsständische Altersversorgung freier Berufe geht u. a. auf die Sozialreformen Ende der 1950er-Jahre zurück. Unter Adenauer war man damals der Auffassung, dass freie Berufe der gesellschaftlichen Solidarität nicht bedürften und sich selbst um ihre Alterssicherung zu kümmern hätten. Nicht die Ärzte selbst haben sich der gesetzlichen Rentenversicherung "entzogen", sondern sie wurden aus dieser praktisch ausgeschlossen. Ausgehend von Bayern gründeten sich danach in vielen Ärztekammerbezirken entsprechende Versorgungswerke, die heute bundesweit existieren.
Berufsständische Versorgungswerke sind für Menschen mit sog. „Kammerberufen“ (Rechtsanwälte, Architekten, Apotheker, Steuerberater) also eine Pflichtversicherung. Ob sie wollen oder nicht, sie müssen einen Teil ihrer Einkünfte an diese zur Altersvorsorge abführen. Nur deshalb können sich Ärzte auch von der gesetzlichen Rentenversicherung (DRV) befreien lassen, denn sonst zahlten sie doppelt.
Für andere (Solo-)Selbstständige existieren solche Modelle nicht. Sie sind im Gegensatz zu den verkammerten Berufsgruppen sehr viel mehr gefährdet, im Alter keine ausreichenden Rücklagen gebildet zu haben (Altersarmut).
Ausnahmen machen keinen Sinn!
Waren es 2019 "nur" wir Honorarärzte, die in Kliniken auf freier Basis dort aushalfen, wo es zu Personalausfällen gekommen war, traf es 2021 freie Notärzte und Ärzte, die Praxisvertretungen übernahmen, wenn der Inhaber erkrankt- oder aus anderen Gründen ausgefallen war. Nun "erwischt" es die notdiensttuenden Ärztinnen und Ärzte (Pollärzte).
Während der Öffentlichkeit nicht bewusst ist, welche verschiedenen Formen freier ärztlicher Tätigkeit in den Zeiten des Fachkräftemangels zur Aufrechterhaltung wesentlicher medizinischer Versorgungsstrukturen verantwortlich sind, kümmern sich unsere Standesvertreter vor allem um ihr jeweiliges "kleines Häufchen ärztlichen Elends", für das sie zuständig sind. Anstatt sich endlich um eine vernünftige gesetzliche Regelung für ALLE Ärzte einzusetzen, die frei und selbstständig arbeiten wollen, verzetteln sie sich in Forderungen nach Ausnahmen für diese und jene Gruppe.
Dabei gibt es eigentlich keine Unterschiede zwischen der Tätigkeit von Honorarärzten im Bereich der Klinik, des Notarztwesens, der Praxisvertretungen oder des KV-Notdienstes. Allen gemeinsam ist der Wunsch nach einer unabhängigen und selbstbestimmten Tätigkeit. Allen gemeinsam ist, dass es keine eigenen Berufsgruppen sind, sondern eine Möglichkeit der ärztlichen Berufsausübung, die genauso "ehrenhaft" und sinnvoll ist, wie jede andere Form ärztlicher Berufsausübung. Diese Tätigkeiten müssen in Zukunft wieder legal und gesetzeskonform möglich sein. Und dafür sollten sich Bundesärztekammer, Landesärztekammern und die Fachverbände zusammen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen und der KBV endlich G E M E I N S A M einsetzen.
Man könnte den Bogen auch noch sehr viel weiter spannen, wenn man einen Blick auf andere Berufsgruppen wirft, die verzweifelt gegen das Problem der Scheinselbständigkeit vorgehen wollen und Verbündete suchen. Ganz aktuell protestieren freiberuflich und selbständig tätige IT-ler:
https://www.dbits.it/aufruf-dbits-gegen-unzureichenden-rechtsrahmen/
Aber dazu müsste man erst recht über den eigenen Tellerrand blicken. Da habe ich allerdings so meine Zweifel.
N. Schäfer - November 2023